die Devaluation der schönen Worte

Es ist noch gar nicht allzu lange her, als uns an jeder Ecke neue und äußerst wichtige Begriffe begegneten – eine Neue Marke kam über uns und mit ihr ihre Botschafter, Botschaften und Werte. Im Zentrum des damaligen Modesprechs in Politik und Businesswelt standen allenthalben gebetsmühlenartig zitierte Begriffskulissen wie zum Beispiel „Unternehmenswerte“, „Leitbild“, „Markenidentität“ oder „Nachhaltigkeit“. In diesem Umfeld begegneten wir ihr erstmalig – und ehrlich: wir freuten uns über sie: Die Flughafenfamilie war geboren.

Unsere einfältige Freude rührte vielleicht aus unserem privaten Erleben, aus unserer eigenen Erfahrung, mit welchen wir den Begriff „Familie“ allgemein zu assoziieren pflegen:  „Familie“ – das ist für uns ja nicht irgendein bedeutungsloser Begriff. „Familie“ – das ist mehr. Es ist ein Wert – untrennbar verbunden mit absoluten Grundwerten wie Geborgenheit, Wärme, Schutz, Gleichheit und Zusammenstehen in der Not.

Allerdings ist es auch möglich, das Anhängsel „-familie“ als reines Substantiv in grammatische Konstruktionen einzubauen. Dann ist es eben erstmal nur ein Wort unter vielen anderen – zugegeben, ein schönes Wort. Auf jeden Fall klingt es viel salonfähiger und allemal besser als zum Beispiel die „Sippschaft“, die „Mischpoke“ oder gar der zynische Vetter, der „Personalüberhang“.

In Zeiten, in denen die Wirtschaft schwer getroffen ist und nach nüchterner Betrachtung wenig Aussicht auf eine baldige Erholung besteht, entblößen sich die einstmals wohlklingenden Worthülsen und zeigen ihren wahren Sinn in erschreckend häßlicher Nacktheit.

Was zum Beispiel bedeutete auf Söders Wahlplakat aus dem Herbst 2018 eigentlich das Wort „unser“? Daß ein sich selbst „christsozial“ nennender Parteipolitiker sich etwa für „uns“ interessiert, wenn eine Notlage besteht?

Wohl kaum – diese Erfahrung mußte zumindest der Ortsverein ver.di-Flughafenregion machen, als er sich bei den Politikern Söder, Aiwanger und Reiter um einen Gesprächstermin bemühte, um über die Schicksale der ca. 20.000 Beschäftigten in Abfertigung,  Verkauf, Gastronomie oder Reinigung am Standort Flughafen zu sprechen. Im Gegensatz zu FMG- oder Lufthansabeschäftigten ist hier kein Hilfsprogramm, kein Notlagentarif oder ähnliches in Aussicht. Aber offenbar scheint auch das (dem sozialdemokratisch-christlichen Bund, dem christsozial-freiwählenden Land und der sozialdemokratisch regierten Stadt gehörige) „Familienunternehmen“ mit dem bunten M seine ungeliebten Stiefkinder zu haben, die von Wahlversprechen und Hochglanzbroschüren ihre Miete nicht bezahlen werden können.

Den Restaurant-Hänsel und die Shop-Gretel schickt man in den Wald … und hält die Tür zu, wenn Gewerkschaftsvertreter um Termine anfragen. Für Lobbyisten, Maskenschieber, Guttenberg-Bekannte und Bilanzbetrüger mit großen Provisionskassen hingegen stehen offenkundig alle CDU/CSU-Türen sperrangelweit offen. Und auch bei Hubsi Aiwanger ist eine Abordnung arbeitender Normalsteuerzahler nicht halb so willkommen wie der Nitrat ins Trinkwasser düngende Biertischkumpel.

Nun, es wäre weißgott wünschenswert gewesen, in der Söder-Aiwanger-Staatskanzlei hätte man weniger Zeit mit Wirecard-Vorständen, irgenwelchen Maskenamigos oder Biertischkumpels verbracht, anstatt mal diensteid- und pflichtgemäß Interesse für gesellschaftliche Fragen wie Niedriglöhne und Notlagen beschäftigter Steuerzahler zu entwickeln!

Ein solches Verhalten der professionellen Politik ist nicht mehr verständlich. Es mißbraucht und entwertet unsere Wertbegriffe. Es säät Mitrauen in die demokratischen Instanzen und gefährdet den Bestand unserer demokratischen Grundordnung auf eine Weise, wie Radikale und Terroristen es sich in ihren feuchtesten Träumen eigentlich nur wünschen können.

Man darf sich wirklich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen sich von etablierten Parteien ab- und kruden Verschwörungstheoretikern, rechtsradikalen Parteien und Aluhüten zuwenden und unser Staatswesen damit langsam aber sicher auf Weimarer Verhältnisse zuführen.